Mythen über den Sozialstaat
Bürgergeld bedeutet soziale Hängematte – oder???

Wer Bürgergeld bekommt lebt sorgenfrei auf Kosten der anderen? Dieses Vorurteil hält sich hartnäckig. Wir zeigen, wie es beim Bürgergeld wirklich zugeht – und wer von den vielen falschen Behauptungen profitiert.

15. Oktober 202515. 10. 2025


Faul und verwöhnt?

Eins ist klar: Wer jeden Tag arbeiten geht, brav seine Steuern und Sozialbeträge zahlt, der kann nicht wollen, dass sich andere von diesem Geld ein bequemes Leben finanzieren.

Kein Wunder also, dass der Streit ums Bürgergeld so scharf geführt wird, dass die Emotionen hochkochen.

Denn zur Wahrheit gehört: Missbrauch beim Bürgergeld gibt es. Und das ist nicht akzeptabel.

Aber die Frage ist: Wie verbreitet ist dieser Missbrauch wirklich? Und ist es fair, Millionen Bürgergeld-Empfänger zu verurteilen, nur weil einige wenige das System ausnutzen? Und, am allerwichtigsten: Lenkt die Debatte über „Sozialbertrug“ nicht von den eigentlichen Problemen ab?


Wie es wirklich aussieht

Die Fakten zum Bürgergeld sind öffentlich zugänglich. Jeder kann sie nachlesen. Grundsätzlich gilt: Den oder die typischen Bürgergeldempfänger gibt es nicht. Die Gruppe besteht aus vielen sehr unterschiedlichen Menschen.

Insgesamt beziehen derzeit rund 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld. 1,8 Millionen davon sind Kinder und Jugendliche, können also noch gar nicht arbeiten. Mehr als 800 000 sind sogenannte Aufstocker: Ihr Lohn ist so gering, dass sie ohne zusätzliches Bürgergeld nicht über die Runden kommen. Sie sind arm trotz Arbeit.

Die übrigen Menschen im Bürgergeld wollen fast alle arbeiten. Viele können das aber nicht, weil sie zum Beispiel chronisch krank sind oder alleinerziehend oder weil sie Angehörige pflegen.


Nur wenige „Totalverweigerer“

Wer arbeitsfähig ist und sich weigert, eine angebotene Beschäftigung aufzunehmen, wird sanktioniert. Das war auch schon vor der jetzt geplanten Reform so. Es betrifft aber in der Realität nur sehr wenige Menschen.

Nur rund 18 000 Personen wurden zuletzt sanktioniert. Also rund ein halbes Prozent der Betroffenen. „Ein Konzernchef, der sich an einem Problem mit dieser Dimension festbeißt, müsste sofort gehen“, sagt IG Metall-Sozialvorstand Hans-Jürgen Urban.


Was hinter diesen Vorurteilen steckt

Warum blasen Wirtschaftslobbyisten und manche Politiker das Problem der sogenannten „Totalverweigerer“ dermaßen auf, obwohl es doch nur relativ wenige Menschen betrifft?

Die Antwort: Weil sie ein Interesse daran haben.

Je schärfer die Grundsicherung ausgestaltet ist, desto abschreckender wirkt sie. Für Beschäftigte entsteht dadurch eine Drohkulisse: Ein System, in dem man auf keinen Fall selbst landen möchte. Es entsteht Druck auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Sie trauen sich vielleicht nicht mehr, für höhere Löhne und gute Arbeitsbedingungen zu streiten – aus Angst vor Jobverlust und dem Leben in der Grundsicherung.

Wer bereits Bürgergeld erhält, verliert ebenfalls: Der Druck, jeden beliebigen Job anzunehmen, ist ein Motor für den Niedriglohnsektor.

Und schließlich gilt: Wer Bürgergeldbeziehende zum Sündenbock macht, kann damit wunderbar von der ungleichen Verteilung des Wohlstands in der Gesellschaft ablenken.


Wie eine soziale Lösung aussieht

Immer mehr Druck ist keine Antwort auf die Probleme arbeitssuchender Menschen. Viel wichtiger wäre: Die Chancen auf gute Arbeit verbessern, etwa durch Sprachförderung und bessere Kinderbetreuung.

Auch mehr Mittel für Beratung und Qualifizierung wären sinnvoll. Denn eine schnelle Vermittlung in schlechtbezahlte Helferjobs ist oft nicht nachhaltig. Diese Jobs werden in Wirtschaftskrisen als erste abgebaut.

Besser wäre, Weiterbildung und Berufsabschlüsse zu fördern. Dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dauerhaft auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

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