Nein, es ist viel komplizierter. Natürlich ist ein Sozialstaat denkbar, der so groß und leistungsfeindlich ist, dass er die Wirtschaft erdrückt, als Extrembeispiel vielleicht wie in der sozialistischen Planwirtschaft. Der Sozialstaat kann aber auch die Produktivität stärken und damit zu einer florierenden Wirtschaft beitragen. Das ist einfaches ökonomisches Lehrbuchwissen. Letztlich geht es immer um ein Austarieren, bei dem man sich die einzelnen Regelungen genau anschauen muss. Pauschal Sozialabbau zu fordern, greift jedenfalls definitiv zu kurz.
Das müsst ihr diejenigen fragen, die den Widerspruch behaupten. Ich kann nur vermuten, dass es häufig um relativ kurzsichtigen Lobbyismus geht, bei dem Wirtschaftsverbände und Unternehmen kurzfristig die Kosten senken wollen – zu Lasten der Beschäftigten. Aktuell glaube ich, dass wegen der wirklich beunruhigenden Wirtschaftslage bei vielen die Nerven blank liegen und man in radikalen Schritten einen Ausweg zu finden hofft. Das ließe allerdings auf einen bedenklichen Mangel an ökonomischer Kompetenz und Urteilskraft schließen.
Da gibt es viele Beispiele: Erstens kann er die Produktivität erhöhen. Die Krankenversicherung sorgt für gesündere und arbeitsfähige Beschäftigte. Ohne die Arbeitslosenversicherung müssten Arbeitslose aus Angst vor dem Verlust der ökonomischen und sozialen Existenz sofort jeden Job annehmen, auch wenn er schlecht und unproduktiv ist. Die Versicherung gibt ihnen wenigstens etwas Zeit, um einen qualifikationsgerechten Job zu finden. Das ist gut für die Beschäftigten, aber auch für die gesamtwirtschaftliche Produktivität. Zweitens stabilisiert der Sozialstaat die Gesamtwirtschaft in Krisen. Weil er die Beschäftigten und Betriebe nicht ins Bodenlose fallen lässt, werden Krisen abgemildert und die Konjunktur kann sich wieder erholen.
In den gesamtwirtschaftlichen Zahlen kommt das jedenfalls nicht zum Ausdruck. Sowohl im zeitlichen Vergleich als auch im internationalen Vergleich ist die Sozialquote als Anteil an der Wirtschaftsleistung ziemlich unauffällig. In vielen Ländern sind in den vergangenen beiden Jahrzehnten die Sozialausgaben viel stärker gestiegen als in Deutschland. Und wenn in der aktuellen Krise die Ausgaben steigen, ist das ja völlig normal und zur Stabilisierung auch erwünscht.
Beim Bürgergeld sollte man differenziert vorgehen, anstatt pauschal nach unten zu treten und alle Empfänger:innen als faul zu diskreditieren. Wenn es ein Problem mit missbräuchlicher Inanspruchnahme gibt – etwa durch Schwarzarbeit gibt – dann muss man diese entschlossener bekämpfen. Ansonsten helfen ein höherer Mindestlohn und geringerer Transferentzug bei Hinzuverdienst. Letzteres haben wir als Sachverständigenrat vor anderthalb Jahren ausführlich behandelt: Ohne Leistungskürzungen lässt sich die Niedrigeinkommensquote reduzieren, die Beschäftigung steigern – und den Staat muss es nichts kosten.
Bei der Rente dominieren Mythen: Die Wahrheit ist, dass bei einer alternden Gesellschaft die Kosten für die arbeitende Bevölkerung steigen werden, in Form höherer Beitragssätze. Das kann man lindern: durch eine hohe Beschäftigung, die Einbeziehung von Selbstständigen in die Rentenversicherung und eine freiwillige Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Die häufig vorgeschlagene Kürzung des Rentenniveaus führt dagegen zu noch höherer Altersarmut. Und die Menschen in Zeiten geopolitischer Unsicherheit zu zwingen, in private Vorsorge auf den globalen Kapitalmärkten zu investieren, belastet sie auch stark, ist riskant und damit wenig verantwortungsbewusst.
Nein, natürlich nicht! Was wäre denn gewesen, wenn man in der Finanzkrise oder bei Corona nach diesem Motto verfahren wäre und zum Beispiel auf Kurzarbeit und andere Leistungen verzichtet hätte? Wirtschaft und Unternehmen wären ins Bodenlose gefallen. Da hätten einige der Unternehmensvertreter und Lobbyisten mal sehen können, wieviel sie dann noch erwirtschaftet hätten!